Noura Hussein

Noura Hussein, Kurdin, sie kam 2017 nach Deutschland und lebt seither in der Ohlendiekshöhe. Sie ist verheiratet und hat drei Kinder. In ihrer Heimat verdiente sie ihr Geld als Computer-Lehrerin und war Mitglied bei einer Menschenrechtsorganisation. Seit 2023 hat sie einen deutschen Pass.

Ein Wunsch

Die Sonne sagt: “Die Zeit vergeht so schnell.“

Finn und Roj werden jeden Tag älter.

Wir sind jetzt im Jahr 2037. Das heißt, seit 20 Jahren bin ich hier in meinem zweiten Heimatland.

Finn, meine Zukunft, mein Leben, mein…

Seit Jahren sitzen wir hier auf den Terrassen des Hamburger Hafens, genießen alle Jahreszeiten, verabschieden uns von der Sonne jedes strahlenden Tages, stillen unseren Durst nach Regen und kühlen unsere Herzen mit dem weißen Schnee, aber

Aber wir können uns noch nicht entscheiden.
Die Frage ist, wann?

Eine merkwürdige Geschichte, die zwei Kulturen, zwei Religionen, zwei Farben und zwei Herzen in der großen Umarmung Hamburgs zusammenbrachte. Ich war 7 Jahre alt, als ich aus meiner Heimat geflohen bin. Finn war ein Jahr älter als ich. Er war alles für mich und er ist es noch.

Ich habe von ihm die ersten deutschen Worte gelernt. Er umarmt mich fest, wenn ich über die Vergangenheit rede. Es ist so, als würde er mir sagen, dass ich alles bin, dass ich keine Angst haben muss.

Mein Vater ist auch blond – wie er – und er hat sehr schöne, grüne Augen, blondes, glattes Haar und er ist so groß. Bei mir ist alles anders.

Meine Eltern haben beschlossen, in unser Heimatland zurückzukehren.

Wie soll ich mich entscheiden? Wie kann ich mit Finn darüber reden? Welche Gründe muss ich angeben, damit ich hierbleiben kann. Sie sagen mir nicht, dass ich mitgehen muss. Aber wie kann ich es ohne sie schaffen? Wie kann mein Herz ohne die Umarmung meiner Mutter schlagen?

Fragen um Fragen ohne Antworten….

Finn umarmt mich und wischt meine Tränen weg, als würde er hören, was in mir vorgeht, ohne dass ich ein Wort sage.

Eine Stimme unterbricht meine Gedanken. Sie ruft meinen Namen: „Roj, war war!“ * Es ist Nadiya, eine Freundin aus Kurdistan. Ich habe sie vor 5 Jahren im Flugzeug kennengelernt, als wir Urlaub in Kurdistan gemacht haben. Sie hat eine sehr traurige Geschichte. Sie ist eine Jesidin aus Sincher. Ich glaube, ihr könnt euch vorstellen, was ich sagen will. Nadiya ist ein Opfer des Terrorismus.

Sie war 13 Jahre alt, als der IS ihr Dorf angegriffen hat. An diesem Tag hat sie alles verloren, Mutter, Vater, Bruder, Schwester und Freunde. Außerdem hat sie sich von ihrer Kindheit und ihren Träumen verabschieden müssen. Nadiyas Geschichte ist lang. Obwohl sie alles verloren hat, ist sie vor Jahren in ihre Heimat zurückgereist und begann Ihre Suche …

An jenem schlimmen Tag des Überfalls nahmen die Mudschahidin sie als Sklavin und verkauften sie im Laufe von drei Jahren mehrmals auf dem Sklavenmarkt. Das Ergebnis war ein Kind, das sie in Rojava weggeben musste, nachdem die kurdischen Einheiten sie in Raqqa befreit hatten. Nun sucht sie seit Jahren ihre Tochter und hofft, dass sie sie eines Tages wiederfindet.

Ich weiß nicht, warum ich mich an ein Zitat von Mahatma Gandhi erinnere: “Ich kenne keine größere Sünde, als einen Unschuldigen im Namen Gottes zu verfolgen“.

Sie ruft mich nochmals: „Roj, war war! *
Was ist denn passiert?
Ich laufe mit Finn schnell zu ihr und frage:„Was ist mit dir los?“
Sie antwortet auf Kurdisch: “Deine Eltern haben angefangen, alles zu verkaufen.“
Ich sage nichts, umarme Finn und verschwinde.
Ich lege mich die ganze Zeit ins Bett. Ich kann mich nicht zusammenreißen und weine.
Nach 20 Jahren frage ich mich: „Warum sind wir hier? Warum müssen wir alles wieder verlieren?
Wir sind Opfer des Krieges und müssen eine Kriegssteuer bezahlen, die nicht unsere Entscheidung war. Wir bezahlen immer noch und zukünftige Generationen werden natürlich auch bezahlen. 

Bou Yahya hat einen tollen Roman mit dem Titel “Die Sonne des Erbiles” geschrieben. Als ich bei seiner Signierstunde war, hat er zu mir gesagt: „Die Lösung aller Tragödien liegt in der Rückkehr zur Natur. Deshalb wünsche ich mir, dass die gesamte Menschheit zur Natur zurückkehrt.“

Ich schließe meine Augen und segle von allem weg, außer von Finn und meiner Heimat ….
Was auch immer meine Entscheidung ist: Ich werde nie vergessen, Finn jeden Morgen bei Sonnenaufgang einen Wunsch zu erfüllen. Ein Wunsch, der so groß wäre wie die Nation.

*War : “Komm!”

4 Gedanken zu „Noura Hussein“

  1. Das habe ich aus dem Text von Noura mitgenommen: auch das, was ich hinter mir lasse, bleibt mir erhalten – als Erinnerung, als Erfahrung, als Sehnsucht, als Sorge.

  2. Heimat ist da, wo ich bin und da, wo ich herkomme. Beides gehört zu mir und ist ein großer Schatz, auch wenn sich das oft zerrissen anfühlt. Herzlich willkommen hier!
    Martin

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